Die Mistel - Viscum album - die Mythische

15.12.2024

Misteln gibt es auf der ganzen Welt, überall, wo es Bäume gibt. Es gibt hunderte von Arten. Sie trotzen Frost und Hitze, lassen sich auch von Stürmen nicht fortreissen und bleiben auch im Winter grün.

Der Klimawandel scheint ihre Ausbreitung zu fördern. Gesunde Bäume können ihr Wachstum behindern durch verstärktes Rindenwachstum. Durch Trockenheit und Hitze geschwächte Bäume sind dazu kaum mehr in der Lage. Wenn der Mistelbefall massiv ist, kann der Baum sterben, weil ihm die Misteln zu viel Wasser und Nährstoffe entziehen. Dies ist aber nicht im Sinne der Mistel, denn stirbt der Wirtsbaum, stirbt auch die Mistel!

Wie schaffen sie das?
Misteln sind Halbschmarotzer, das heisst, sie können selbst Fotosynthese betreiben und so ihren Energiebedarf decken. Wasser und Nährstoffe beziehen sie von ihrem Wirtsbaum. Ihre Triebe sind gabelig verzweigt und erhalten so ihre typische Kugelform. So bieten sie dem Wind wenig Angriffsfläche.
Sie blühen schon im März, wenn die Bäume noch kahl sind. So können die Insekten sie gut finden und bestäuben. Die Beeren aber reifen erst spät im Herbst oder Winter, wenn die Bäume ihr Laub bereits wieder abgeworfen haben.

Nicht der Storch, sondern Drosseln und Mönchsgrasmücken!
Die Mistel ist zweihäusig, es gibt also männliche und weibliche Mistelpflanzen. Sie blühen erst im Alter von fünf bis sieben Jahren zum ersten Mal.
Die Blütenstände offerieren Nektar, der allerlei Insekten – z.B. Fliegen, Bienen, Hummeln, Ameisen – anlockt, die für die Bestäubung sorgen. Nach der Befruchtung ruhen die weiblichen Blütenstände bis in den Hochsommer. Erst dann bilden sich die Früchte mit dem darin geschützt liegenden Embryo. Sie bilden also keinen eigentlichen Samen aus. Der Embryo ist in grünes Nährgewebe eingebettet und braucht zum Überleben Licht. Die Hülle der Frucht ist deshalb transparent.

Mistel-Embryo Mistel-Embryo
Nun braucht der Embryo die Hilfe eines Vogels. Neben anderen sind es vor allem zwei Arten: Die Misteldrossel, die im Winter die Beeren frisst und den unverdauten Embryo mit Resten der klebrigen Hülle wieder ausscheidet, und die Mönchsgrasmücke, die bei der Rückkehr ins Brutgebiet von den übriggebliebenen Beeren die saftige Hülle frisst. Den grünen, klebrigen Embryo streift sie an einem Zweig ab. Weitere Geburtshelfer sind: Wacholderdrossel und Seidenschwanz.
Wenn am Ende des Winters einige Beeren keinen hilfreichen Schnabel gefunden haben, lösen sich die Beeren spontan von den Zweigen und ziehen einen klebrigen Faden hinter sich her. So können sie mit etwas Glück einen tieferliegenden Ast desselben Baums besiedeln. Deshalb sieht man manchmal Bäume voller Mistelkugeln, während benachbarte Bäume mistelfrei sind.

Wie entwickelt sich eine Mistelpflanze?
Eine Pflanze entsteht aus einem Samen. Nicht so bei der Mistel! Der Embryo bildet sich bei der Mistel bereits in der Beere aus (siehe Bild!). Wenn dieser Embryo auf einem Wirtsbaum landet, bildet er einen dünnen Stängel aus, an dessen Ende sich eine Haftscheibe befindet. Damit klebt er sich an der Rinde fest, schiebt ein Saugrohr bis in die Keimschicht (das Kambium) vor und dringt mit einem Senker (einer «Wurzel») in die Leitgefässe des Baumes ein. Von dort bezieht er nun Wasser und Nährstoffe. Dieser Vorgang dauert bis in den Spätsommer.
Wenn der Baum im Laufe der Jahre dicker wird, wächst der Senker mit nach Aussen und wird immer mehr vom Holz des Baumes umschlossen.
Nachdem der Embryo gut verankert ist und Nährstoffe aus dem Baum beziehen kann, ruht er sich aus bis im nächsten Frühling. Nun beginnt er sich aufzurichten und bildet zunächst zwei grüne Blättchen. Und wieder eine Ruhepause. Erst vier Jahre nach dem ersten Austreiben wachsen drei neue Triebe: zwei seitlich und einer in der Mitte, jeder mit zwei Blättchen. Von nun an bildet die Pflanze in jedem Frühling neu Triebe und Blättchen, aber immer nur in den Achseln der Vorjahrestriebe. Die zentrale Knospe wird zum Blütenstand.

Das Extra der Mistel
Pflanzen orientieren sich mit ihren Wurzeln zum Erdmittelpunkt hin, mit den oberirdischen Teilen zum Zenith. Nicht so die Mistel. Ende Mai beginnt sie sich zu bewegen. Es ist, als suche sie ihren eigenen Mittelpunkt. Blätter und Triebe orientieren sich jeden Tag in eine andere Richtung. Im Sommer hat sie sich dann ganz vom Erdmittelpunkt und dem Zenith als Orientierungspunkte für das Wachstum gelöst und wächst um ihren eigenen Mittelpunkt. Dies macht sonst keine andere Pflanze.

Die Mythen
Die Kelten verehrten die Pflanze. Nur die Götter konnten für ihre Verbreitung verantwortlich sein, da sie zwischen Himmel und Erde wächst. Die Druiden (Miraculix!) schnitten am sechsten Tag nach dem Neujahrsmond Zweige mit goldenen Messern. Die Zweige fingen sie mit einem weissen Tuch auf, damit sie die Erde nicht berührten und damit ihrer Zauberkraft beraubt wurden.
In den nordischen Sagen gibt es die Geschichte vom blinden Wintergott Hödur, der mit einem Pfeil aus Mistelholz versehentlich seinen Bruder Baldur, den Sonnengott, tötete und so die Abfolge der Jahreszeiten störte. Die Göttin Frigga, die Mutter Baldurs, weinte um ihren Sohn. Die Tränen drangen in die weissen Beeren der Mistel, wodurch sie ihren Sohn aus dem Totenreich zurückholen konnte. Vor Freude, ihren Sohn zurückzuhaben, küsste sie jeden, der unter den Misteln hindurchging. Diese versprachen der Göttin, in Zukunft verliebten Paaren die Liebe zu verschönern. Seither küsst man sich am Weihnachtstag unter Mistelzweigen.
Im Mittelalter wiederum glaubte man, die Mistel schütze vor allem Bösen.

Historisches
Die Römer schmierten das klebrige Fruchtfleisch auf Äste und Zweige, lockten so Vögel an, die dann haften blieben und leicht gefangen werden konnten.

Aus der Medizin
Die Pflanze wurde und wird genutzt. Bereits die Griechen verwendeten die Pflanze, wahrscheinlich bei psychischen Erkrankungen.
Im Mittelalter wurde die Wirkung gegen Geschwüre, Entzündungen, Schwindel und Krämpfe gepriesen. Die Heilkundige Hildegard von Bingen empfahl sie bei Lebererkrankungen und erfrorenen Gliedmassen. Sebastian Kneipp verwendete sie zur Behandlung von Epilepsie (Fallsucht).
Heute wird sie in der anthroposophischen Medizin als ergänzendes Mittel bei Krebskrankheiten angewandt.

Text: Ruth Macauley